Was verstehen Sie unter "Orthodoxie"?

Auszug aus dem Buch Anatomie der Seele oder Das grosse Buch der Seele (Taschenbuch) ab Seite 612:

Die Orthodoxie

Die Erschaffung eines Gottesbildes nach dem Bild des Menschen ist allerdings ein natürlicher Vorgang, welcher auf den unteren Entwicklungsstufen nicht nur unvermeidlich, sondern sogar notwendig ist. Sie bietet auf dieser Entwicklungshöhe die einzige Möglichkeit, zwischen Gott und dem Menschen eine für alle begehbare Brücke zu schlagen.

Die Brücke wird dann begehbar, wenn sie „festgefügt“ ist. Festgefügt wird sie durch das Festlegen und Strukturieren dessen, was aus der Seele projiziert wird. So wird auch das Religiöse durch entsprechende Formen: durch Vorschriften und Gesetze, Gebote und Verbote festgelegt.

Die Einhaltung der Gebote gehört zum religiösen – und das heißt: zum „gottgefälligen“ – Leben. Werden Gebote übertreten oder missachtet, so verscherzt der Mensch sein Seelenheil. Und da auf dieser unteren Entwicklungsstufe jeder nur das akzeptiert, was ihm seine Gemeinschaft als „Wahrheit“ vorlegt, ist es nur selbstverständlich, dass die Religion dieser Gemeinschaft als die einzig richtige und einzig „seligmachende“ erachtet wird, die allein die Wahrheit besitzt und daher allgemeingültig ist. So betrachtet sich die katholische Kirche heute noch als alleinige Trägerin des wahren Glaubens. (Vgl. z.B. das Rundschreiben des Papstes JOHANNES PAUL II. Dominus JESUS vom September 2000, das auch in katholischen Kreisen von jenen, die bisher an die Aufrichtigkeit der Bemühungen der katholischen Kirche um die Ökumene glaubten, als Rückfall empfunden wird.)

Es ist die dritte Entwicklungsstufe, auf welcher Teilerkenntnisse aus der irdischen und der Göttlichen Wirklichkeit mit Projektionen aus der menschlichen Seele vermengt, sodann festgefügt – „dogmatisiert“ – und somit zu einem starren System ausgestaltet werden.

So entsteht in dieser Entwicklungsphase die Orthodoxie (gr. aus: orthós- = gerade-, recht-, streng-; dóxa = Glaube; Recht-, Streng-, Starrgläubigkeit). Es gibt nicht nur im Bereich der Religion „Starrgläubigkeit“; Orthodoxie gibt es auch in zahllosen profanen Bereichen, zum Beispiel in diversen wissenschaftlichen Disziplinen.

Der Gläubige, der seine Religion für die ewig und einzig wahre hält, inkarniert sich früher oder später in einem anderen Kulturkreis, in welchem eine andere Religion herrscht. Verharrt er noch in seiner orthodoxen Gesinnung, so wird er die neue Religion, die er in früheren Inkarnationen vielleicht sogar bekämpft hat, nun für die einzig mögliche und wahre halten und sich jetzt für diese vorbehaltlos einsetzen.

Wird der Mensch innerlich etwas reifer und beginnt er allmählich an der Richtigkeit mancher Glaubenssätze und Vorschriften zu zweifeln, so wird er an Autorität und Tradition wie auch an den Dogmen seiner – jeweiligen – Religion erst recht festhalten, um vor sich selber seine Unsicherheit zu verdecken und seine – ins Wanken geratene – Stabilität und die Geborgenheit, die ihm seine Religion bietet, vor seiner Skepsis zu schützen und zu bewahren.

Erst in der zweiten Hälfte seiner äonischen Entwicklung beginnt der Mensch zu erkennen, dass ihn die Einhaltung der äußeren Formen auf dem Glaubensweg nicht weiterführt. Er erkennt allmählich, dass seine Religiosität und die Auseinandersetzung mit „seiner“ (jeweiligen) Religion – meistens zwar nur in geringem Maße, aber dennoch – dazu beigetragen hat, seine persönliche Beziehung zu Gott zu fördern.

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Religionen sind Pfade auf dem Weg zur Bergspitze, wo Gott „thront“. Der Thron Gottes befindet sich aber im Herzen eines jeden einzelnen. Auf diesen Pfaden steigen die Menschen von verschiedenen Seiten den Berg hinauf, und das heißt: in die tiefste Tiefe ihres Herzens. Je höher hinauf bzw. je tiefer sie gelangen, umso näher kommen sie sich und umso mehr gleichen sich ihre Glaubensvorstellungen an. Denn alles, was nicht „Gottes“ ist, bleibt weit unten zurück: Es hat keinen Zugang zum zutiefst liegenden „Kämmerlein“ des Herzens (vgl. Mt 6,6).

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